Qualitative und quantitative Methoden im UX-Research – eparo im Gespräch mit Iris Viebke

Viele UX-Methoden basieren auf einem qualitativen Ansatz. Das Marketing und die Marktforschung unserer Kunden verlangt hingegen oft "harte" Zahlen. Wie bringt man beide Ansprüche zusammen? – Wie deutsche Vorstandsetagen und Entscheider zu dieser Frage stehen, besprechen wir mit Iris Viebke, Marktforscherin von den InMind-Experts (www.inmind-experts.de). Wir wollen wissen, was in der klassischen Marktforschung zählt und welchen Mehrwert die Kombination von Qualität und Quantität am Ende tatsächlich bringt. Unsere These: In der modernen Markt- und Nutzerforschung entstehen immer mehr Fragen, die überhaupt nur durch eine Kombination beider Ansätze verlässlich zu klären sind.

Quantität plus Qualität – Ein neues Paradigma?

eparo: Hallo Iris, schön dass Du Zeit für uns hast! Du bist seit über 20 Jahren in der Marktforschung tätig und hast für Kunden, wie Vorwerk und Tchibo gearbeitet. Deine Kunden wollen große Zahlen und Dich schrecken Statistiken nicht ab. Wie ist die aktuelle Situation: Zählen weiterhin allein "harte" quantitative Daten oder werden auch "weiche" qualitative Argumente relevant? Und rückblickend auf die letzten Jahre: Wie sehr hat sich daran Deiner Beobachtung nach etwas verändert?

Iris Viebke, InMind Experts Iris Viebke, InMind Experts

Iris Viebke: Hallo Markus, herzlichen Dank für die Einladung zu diesem Gespräch! In der Tat gibt es in vielen Unternehmen Gremien, die sich bei Stichproben unter 1.000 Interviews die Ergebnisse gar nicht erst anschauen. Glücklicherweise haben aber viele Entscheider im Marketing und im Vertrieb mittlerweile verstanden, dass erst eine gute Kombination aus qualitativen und quantitativen Ergebnissen, die besten Einblicke, Insights und Zusammenhänge in der Welt der Verbraucher oder User aufdecken.

Qualitative Methoden haben den Vorteil, tief in die Einstellungswelten der Kunden oder Nutzer und deren Hintergründe einzutauchen. Nachgelagerte quantitative Interviews können diese dann beispielsweise valide absichern und bieten durch multivariate Analysemethoden weitere Erkenntnisse: So kann man beispielsweise Korrelationen errechnen, Zielgruppen zu Segmenten clustern und Nutzenwerte einzelner Features statistisch sauber errechnen.

"Qualitative Studien bringen Tiefe, quantitive Daten schaffen Überblick und Validität."

Und natürlich gibt es darüber hinaus noch zig andere Möglichkeiten, um qualitative und quantitative Methoden zu kombinieren..., wobei zunächst natürlich immer die Forschungsfrage und die Entscheidungen, die auf ihr basieren sollen, ausschlaggebend für die Methodenwahl sind.

eparo: So wie Du gerade die Situation kurz beschrieben hast klingt es, als hätte es in den letzten Jahren schon eine Art "Umdenken" im Marketing und in der Marktforschung großer Unternehmen gegeben. Bei eparo erleben wir das ebenso: Auch uns erreichen immer mehr Anfragen, konkrete, qualitative Testbeobachtungen auf eine Breite empirische Basis zu stellen. Was würdest Du sagen: Was hat den Ausschlag gegeben für diese neue Perspektive in den Unternehmen? Hast Du Deine Kunden überzeugen müssen, dass es für eine bestimmte Frage sinnvoll ist, qualitative und quantitative Daten zu kombinieren?  Oder kommen die Kollegen aus dem Marketing heute teilweise bereits selber mit diesem Anliegen zu Dir?

Iris Viebke: Bei jeder Aufgabenstellung, schlage ich meinen Kunden das meiner Erfahrung nach bestmögliche Untersuchungsdesign vor. Wenn das Marketing oder die MaFo schon eine Methode vorgeben, ich aber der Meinung bin, dass der Erkenntnisgewinn höher ist, wenn man mehrere Methoden miteinander kombiniert, dann weise ich darauf hin. Ich schlage dann verschiedene Optionen vor, die Frage zu bearbeiten, und zeige deren Vor- und Nachteile auf.

Manchmal kommt die Einsicht allerdings tatsächlich auch erst mit der Zeit. Wenn sich beispielsweise bestimmte Fragen auch beim x-ten Mal nicht zufriedenstellend durch eine große Onlinebefragung beantworten lassen, dann lassen sich viele Kunden am Ende eben doch auf weiterführende Tiefeninterviews ein. Ich habe dann schon viele beeindruckte Gesichter gesehen, wenn die Verantwortlichen in den Präsentationen den Mehrwert einer Kombination aus qualitativen und quantitativen Ergebnissen plötzlich erkennen und sich fragen: "Warum haben wir das nicht immer schon so gemacht?"

"Ein Umdenken im Marketing und in der Marktforschung ist definitiv erkennbar."

Obschon sich also auch in den oberen Etagen bereits einiges tut, ist am Ende doch noch ein bisschen Aufklärungsarbeit notwendig. Manchmal reicht die eine Methode – also qualitativ oder quantitativ aus – manchmal aber eben auch nicht. Ich versuche das auch immer wieder meinen Studenten an der Hochschule deutlich zu machen. Insbesondere die jungen Marketeers sind daher inzwischen schon sehr offen für solche Vorschläge.

Vom Wert der Qualität

eparo: Das heißt, es gibt durchaus so etwas wie eine „alte Schule“ des Marketings, deren reine Lehre die großen Zahlen sind, und jüngere, modernere Ansätze der Marktforschung? Das ist natürlich spannend. Kannst Du uns ein typisches Beispiel für so ein Aha-Moment auf Kundenseite nennen? Und kommen Kunden, die einmal überzeugt worden sind, dann beim nächsten Mal gleich selber auf Dich zu und sagen: "Lass uns Breite mit Tiefe kombinieren?"

Iris Viebke: Ich arbeite für einige Unternehmen, die ihre Dienstleistungen bzw. Produkte über einen Außendienst vertreiben. Ich kann mich da an eine Vertriebsbefragung erinnern, bei der es um die Berater-Zufriedenheit ging. Ich konnte meinen Kunden überzeugen, dass eine Onlinebefragung mit überwiegend geschlossenen Fragen und Statement-Batterien durch Tiefeninterviews ergänzt werden sollte.

Bei der Auswertung zeigte sich im quantitativen Teil eine recht durchschnittliche Zufriedenheit mit den jeweils nächsthöheren Führungskräften. Das war zwar nicht optimal, aber erst einmal auch  nicht weiter bedrohlich. Durch die Tiefeninterviews hingegen wurde dieses Ergebnis völlig neu beleuchtet: Denn es zeigte sich, welches Ausmaß und welche Qualität die erlebte Unzufriedenheit tatsächlich hatte. In den Interviews wurden mir da so einige Geschichten erzählt, wie sich Mitarbeiter über empfundene Ungerechtigkeiten und einen übermäßigen Druck der Führungskraft geärgert hatten und welche "Streiche" man dann gemeinsam gegen die Nächsthöheren "spielte".

"... und dann habe ich die Ergebnisse der qualitativen Studie präsentiert..."

Die Ergebnisse der Erhebung durfte ich der obersten Führungsriege im Rahmen einer Tagung präsentieren. Das Management war über die schlechten "Zahlen" der Onlinebefragung zwar schon beunruhigt, aber dann gab es in dieser Präsentation einen Moment, da hätte man eine Stecknadel fallen hören können, als ich das wörtliche Zitat eines Außendienstmitarbeiters vortrug, der erzählte, wie man die Führungskraft, die für die Bewerbungsgespräche zuständig war und die potentiellen neuen Mitarbeiter dazu auch gerne in ihrem Zuhause besuchte, wiederholt bewusst in einen sozialen Brennpunkt "mit lauter Assi und Alkis" geschickt hatte. Erst diese Hintergründe und O-Ton-Geschichten haben dazu geführt, dass die Führungsverantwortlichen sehr ernsthaft über Veränderungen und Maßnahmen nachdachten.

eparo: Eine enorme Geschichte! Und sie zeigt ja extrem deutlich, wie die verschiedenen Methoden zu durchaus unterschiedlichen Perspektiven auf ein und derselbe Sache führen können, obschon beide ja im Grunde dasselbe Phänomen beschrieben haben. Überzeugt hat dann ein qualitatives Argument – und das obschon es ganz sicher ein Einzelurteil war. Was würdest Du sagen: Warum war dieses eine Statement an dieser Stelle so kraftvoll? Weil es sozusagen deutlich gemacht hat, was die schlechten Zahlen am Ende wirklich „bedeuten“? Weil es den Zahlen „Leben“ eingehaucht haben? 

Iris Viebke: Meist sind die Bewertungen in der Tat gar nicht unterschiedlich. Sie zeigen verschiedene Facetten und Tiefen des gleichen Bildes auf. Harte Zahlen können allein schon sehr überzeugend sein. Die "Geschichten" machen die Ergebnisse aber visuell vorstellbar und damit auch fühlbar. Wir als Marketingforscher erheben für unsere Kunden Informationen auf deren Basis sie dann Entscheidungen treffen. Und je besser die Entscheider die Ergebnisse verstehen und nachvollziehen können, desto erfolgreicher können sie dieses Wissen nutzen.

Methoden kombinieren – Breite und Tiefe schaffen

eparo: Das klingt sehr logisch. Die Kombination der Methoden bringt den Mehrwert. Wie ist das aus Deiner Sicht: Bisher haben wir so geredet, dass eine quantitative Erhebung am Anfang steht und diese durch qualitative Daten sozusagen vertieft oder weitergehend interpretierbar gemacht wird. Erlebst Du in Deiner Praxis auch den umgekehrten Weg?

Iris Viebke: Na klar. Beispielsweise, wenn man sich in einem Feld bewegt, in dem man relativ wenig Vorwissen hat, geht es gar nicht anders. Dann muss man sich dem Thema erst einmal qualitativ nähern. Ansonsten wird es schwierig einen strukturierten Fragebogen zu entwickeln. Es fehlen sonst vielleicht Aspekte und Themen, auf die man am "Schreibtisch" einfach nicht kommt. Man braucht die qualitative Vorstufe auch zur Hypothesenbildung. Beide Richtungen können also sehr sinnvoll sein.

eparo: Hast Du auch dazu ein konkretes Beispiel? Wenn wir ein eparo-Beispiel nehmen, dann liegt es für die Optimierung digitaler Produkte nahe, zunächst durch quantitative Studien Nutzerprofile, Bedarfe und typische Usecases zu erheben, dann das Interface zu konzipieren und es schließlich aufbauend auf diese breite Datenbasis qualitativ zu testen... 

Iris Viebke: Nicht aus dem Bereich digitaler Produkte, aber aus dem Bereich Food, im Speziellen TK-Fertiggerichte. Dieser Markt ist sehr komplex und ein neuer Anbieter kann sich eigentlich nur durch Produkte, die sich aus dem Einerlei der Asia-, Nudel- und Schlemmerpfannengerichte abheben, durchsetzen. Wir haben daher für dieses Segment eine quantitative Clusteranalyse durchgeführt und genau analysiert, welche Kunden diese Art von Produkten nutzen. Dabei konnten wir einige sehr klare Cluster herauslesen: u.a. beispielsweise den Kochmuffel (meist männlich, mittleren Alters, Single, zu faul zum Kochen, hat es auch nicht zu Haus gelernt, findet essen lästig, will eigentlich nur schnell satt werden…).

"Unsere Kundensegmente haben wir quantitativ bestimmt, das Finetuning erfolgte qualitativ."

Ich darf jetzt nicht zu viel verraten, aber das Wesentliche, was wir herausgefunden haben, ist: Er und die anderen Cluster haben einige wichtige Eigenschaften und Gewohnheiten, aus denen man neue Konzepte und Produktideen ableiten kann – und genau das ist dann auch passiert. Das Unternehmen ist jetzt dabei, genau auf diese Profile zugeschneiderte Produkte zu entwickeln. Das Finetuning der Konzeptideen erfolgt dann abschließend mittels qualitativer Gruppendiskussionen und ethnografischen Studien.

eparo: Das klingt, als würden wir davon noch zu hören bekommen... Indem Ihr quantitativ und qualitativ verbindet, bringt Ihr dann sicher auch verschiedene Kompetenzen und Perspektiven an einen Tisch, nehme ich an? So jedenfalls verfahren wir bei unseren Projekten dieser Art. Welche Personen und Fachbereiche sitzen zusammen mit Dir in einem Team für solche Produktentwicklungs-Projekte? 

Iris Viebke: Für so ein Kombi-Projekt braucht man sowohl die Zahlenexperten, z.B. Statistiker, als auch die Psychologen oder Soziologen. Ich selbst habe Betriebswirtschaft studiert – das kommt mir fürs Lesen der Zahlen zu Gute - und mir über die Jahre hinweg die eine oder psychologische Zusatzausbildung gegönnt. Allerdings braucht man noch ein paar mehr Experten: Da wären beispielsweise die Programmierer für die quantitativen Fragebogen, die Panelbetreiber, die die Probanden zur Verfügung stellen, die Rekrutierer, die Personen für die Gruppendiskussionen oder Einzelinterviews suchen und einladen, die Moderatoren und Interviewer für die qualitative Stufe. Also: Es sind insgesamt eine Menge Kompetenzen am Start.

Perspektiven mischen, Produkte voranbringen

eparo: Das Stichwort heißt also auch bei Dir: „Gemischte Teams“. Für unsere digitalen Projekte bringen wir Produktverantwortliche, Marketing, Marktforscher, Programmierer, UX-Strategen und Researcher zusammen, so dass jeder seine Perspektive einbringen kann. Wie ist das dann bei Dir, wenn die ersten Ergebnisse vorliegen: Kennst Du das auch, dass dann manchmal die Wünsche und Bedarfe der User oder Customer nicht unbedingt zu den Annahmen und Zielen passen, die die Kundenseite mitgebracht hat?  

Iris Viebke: Ja, das kenne ich auch! Da geht die Bandbreite von völliger Überraschung – was allerdings eher selten ist – über leichte Verwunderung bis hin zu kreativer Erleuchtung.

Ich habe mal für einen Elektronikunternehmen einen Produkttest durchgeführt, es ging um Staubsauger. Bei den Interviews waren dann auch die Ingenieure dabei. Die haben hinter einem Einwegspiegel gesessen und zugeschaut, wie "ganz normale Hausfrauen" mit ihrem Prototypen  gearbeitet haben. Als die Interviewerin dann auf ein neues, aus Sicht der Ingenieure ganz besonderes Feature zu sprechen kam, – am Fuß der Düse war eine kleine Lampe, die den Boden der gerade gesaugt wurde beleuchtete – hat eine Testperson, eine ältere Dame, einen totalen Lachflash bekommen: "Ich will ein Gerät, das Staub wegsaugt und keine Lightshow. Macht der auch noch Musik?..."

Ich gebe zu, der verantwortliche Ingenieur war ein bisschen beleidigt, hat aber dann doch eingesehen, dass Hausfrauen manchmal andere Bedürfnisse haben als Techniker denken...

eparo: Ja, genau diese Situation meine ich! Treffen interne Vorstellungen und Produktideen auf reale Nutzer, fällt das Ergebnis gerne mal anders aus als gedacht. Und meine Erfahrung ist dann, dass solche Einsichten nochmal umso überzeugender sind, wenn sie durch qualitative und quantitative Analysen gleichzeitig gestützt werden...  

Iris Viebke: Ja, genau! Wenn sich diejenigen, die ein Produkt entwickeln, frühzeitig mit denen auseinander setzen, für die sie es entwickeln, dann ist das immer erfolgstreibend!

eparo: Und das heißt doch, sozusagen als Fazit, dass die Kombination von qualitativen und quantiativen Methoden am Ende vor allem eins ermöglicht, nämlich einen noch klareren Fokus auf die Bedarfe und Wünsche der Kunden und Nutzer... 

Iris Viebke: Stimmt. Und gerade weil man so Produkte erzeugt, die Kunden überzeugen, und nicht primär  Entwickler oder das Management, kommen solche Erhebungen am Ende natürlich wieder direkt dem Unternehmen zu Gute!

Iris Viebke

Iris Viebke

Iris Viebke von InMind Experts ist seit über 20 Jahren in der Marktforschung tätig und hat zahlreiche große und mittelständische Unternehmen erfolgreich begleitet. Ihr Schwerpunkte liegen in Markenkern- und Imageanalysen sowie in Vertriebs- und Mitarbeiterbefragungen. Bei InMind-Experts ist sie unter anderem verantwortlich für vertriebsspezifische Fragestellungen.

www.inmind-experts.de
iv@inmind-experts.de

Das Gespräch mit Iris Viebke führte Markus für eparo.

Beitrag kommentieren